Es scheint zwar kaum (Fußball-)Vereine zu geben, die keine Abspaltung, Auflösung, Fusion, Neugründung oder (relevante) Umbenennung erfahren haben, der Umgang damit variiert jedoch, insbesondere in Bezug auf das Gründungsjahr. Hier einige Beispiele zum Thema:
Durch einen Zusammenschluss der Vereine Frisch Auf, Preußen und Vorwärts im Jahr 1906 wurde der FC Olympia 1906 Oberschöneweide gegründet. Bereits kurz danach schloss dieser sich dem BTuFC Helgoland 1897 an, jedoch erfolgte sehr schnell wieder die Trennung und eine neue Bindung an den BTuFC Union 1892, von dem man sich nach zwei Jahren allerdings auch wieder trennte, diesmal um eigenständig agieren zu können. Die Vereinsfarben Blau-Weiß und der Name „Union“ wurden aus freundschaftlicher Verbundenheit von BTuFC Union 1892 übernommen, und der Verein trat fortan als Union Oberschöneweide an. Diese Art von Zusammenschlüssen, Trennungen und Namensänderungen setzte sich, auch durch (DDR-)politische Einflüsse bedingt, noch einige Jahre fort, bis schließlich im Jahr 1966 der 1. Fußballclub Union Berlin e.V. ins Leben gerufen wurde. Trotz all dieser freiwilligen und unfreiwilligen Veränderungen führt der 1. Fußballclub Union Berlin e.V. den 20. Januar 1966 als sein offizielles Gründungsdatum, und nicht eines seiner Vorgängervereine.
Unzufriedene Mitglieder der Kölner Turnerschaft gründeten 1899 den Verein Fußball-Club Borussia Köln. Wiederum unzufriedene Mitglieder des Fußball-Clubs Borussia Köln spalteten sich 1901 ab und gründeten den Kölner Ballspiel-Club 1901. Im Jahr 1907 wurde der Spielverein Sülz 07 gegründet, der, wie viele andere Zusammenschlüsse in dieser Zeit, zwecks Konkurrenzfähigkeit 1919 mit dem FC Hertha Köln zur Spielvereinigung Sülz 07 fusionierte. Nach dem zweiten Weltkrieg lehnte der SV Union Köln eine Fusion mit dem Kölner Ballspiel-Club 1901 ab, der sich daraufhin an die Spielvereinigung Sülz 07 wandte, um einen Kölner Großverein zu gründen. Der Fußballklub 1. Fußball-Club Köln 01/07 e. V. wurde am 13. Februar 1948 durch Zusammenschluss der beiden Fußballvereine Kölner Ballspiel-Club 1901 und Spielvereinigung Sülz 07 gegründet. Der 1. Fußball-Club Köln 01/07 e. V., der also eigentlich gar nicht der 1. Fußballclub in Köln ist, führt trotz all dieser Zusammenschlüsse und Namensänderungen den 13. Februar 1948 als Gründungsdatum, und nicht das eines seiner Vorgängervereine, obwohl, so schilderte es Autor und Moderator Ralf Friedrichs, 1961 bei einem Festakt des 1. FC Köln auch schon mal der 60. Geburtstag gefeiert wurde, weil man vom 1901 gegründetem Vorgängerverein Kölner Ballspiel-Club 1901 ausging.
In den bisherigen Beispielen sind Fußballvereine Ausgangspunkt für die Entwicklungen, aber das war nicht überall so. Die heute als Turn‑ und Sportgemeinschaft Hoffenheim 1899 e. V. und Turn- und Sportverein München von 1860 e. V. agierenden Vereine waren anfangs reine Turnvereine, in denen es lange Zeit keinen Platz für Fußball gab. Hier könnte man sich also auch die Frage stellen, ob nicht sogar vereinsintern mit verschiedenen Gründungsjahren gearbeitet werden sollte, anstatt das älteste auch für Abteilungen einzusetzen, die erst Jahrzehnte später gegründet (oder übernommen oder rein„fusioniert“) wurden. Übrigens: Der Turn- und Sportverein München von 1860 e. V. wurde eigentlich schon 1848 gegründet, allerdings zwischenzeitlich verboten und 1860 „neu“ gegründet und führt seitdem dieses Jahr, und nicht etwa das von 1848, im Vereinsnamen. Der Offenbacher Fußball Club Kickers 1901 e. V. wurde übrigens auch schon 1899 gegründet, zersplitterte aber aus finanziellen Gründen und wurde am 27. Mai 1901 unter dem heutigen Namen erneut gegründet und gibt auch dieses Jahr, und nicht das seines ersten Anlaufversuchs, als Gründungsdatum an.
Ein Blick ins Ausland: Im Jahr 1899 gründeten Italiener und Engländer den Milan Cricket and Football Club, der später zur Associazione Calcio Milan (AC Mailand) wurde. Der Lokalrivale, Football Club Internazionale Milano (Inter Mailand) folgte 1908. Dieser wurde von verärgerten kosmopolitischen Mitgliedern des Milan Cricket and Football Club gegründet, da in diesem nur Italiener spielen durften. Der damals wie heute genannte Football Club Internazionale Milano führt den 9. März 1908 als Gründungsdatum.
Zurück nach Deutschland. 1894 wurde der Frankfurter Fußball-Club Germania gegründet. Eine Abspaltung davon gründete 1899 den Fußballverein Frankfurter Fußball-Club Victoria von 1899. Ebenfalls gegründet wurde in diesem Jahr auch der Frankfurter Fußball-Club 1899. Im Jahr 1900 (evtl. auch schon im November 1899) folgten die Frankfurter Kickers und noch im selben Jahr erfolgte die Fusion eben jener Frankfurter Kickers mit dem Frankfurter Fußball-Club 1899 zum Frankfurter Fußball-Club 1899 Kickers, der sich 1908 in Fußball-Verein Frankfurter Kickers umbenannte. 1911 fusionierten Frankfurter Fußball-Club Victoria von 1899 und Fußball-Verein Frankfurter Kickers zum Frankfurter Fußball-Verein (Kickers-Victoria) von 1899. Weiter ging es im Jahr 1920 mit der Fusion von der Frankfurter Turngemeinde von 1861 und dem Frankfurter Fußball-Verein (Kickers-Victoria) von 1899 zur Frankfurter Turn- und Sportgemeinde Eintracht (F. F. V.) von 1861, womit also zum ersten Mal die Bezeichnung „Eintracht“ im Namen geführt wird.
Danach folgten noch weitere Aufspaltungen, Fusionen und Umbenennungen, u. a. auch sportpolitisch bedingt, bis 1969 die Übernahme der zwischenzeitlich ebenfalls durch eine Fusion entstandene Turn- und Fechtgemeinde Eintracht 1861 Frankfurt durch die Frankfurter SG Eintracht (F. F. V.) und Umbenennung in Eintracht Frankfurt e. V. erfolgte. Eintracht Frankfurt e. V. führt als Gründungsdatum jedoch nicht einen Tag im April von 1920, der offenbar auch gar nicht exakt bekannt ist, jedenfalls ist überall nur von „April 1920“ die Rede, sondern den 8. März 1899, also das Gründungsdatum des Frankfurter Fußball-Clubs Victoria von 1899, einem der zahlreichen Vorgängervereine.
Wenn in der Historie eines Vereins auf den Begriff „Vorgängerverein“zurückgegriffen wird, erscheint es mir arg konstruiert, sich auf dessen Gründungsdatum zu beziehen, besonders dann, wenn zum Zeitpunkt der Gründung noch nicht einmal absehbar war, dass sich daraus später – wie im vorliegenden Fall – die „Eintracht“ formieren würde. Der Begriff „Eintracht“ umfasst eigentlich wunderbar alle Fusionen, Gründungen und Namensänderungen unterschiedlicher Frankfurter Vereine zusammen, warum dann nicht auch das Datum übernehmen, ab dem die prägende Bezeichnung „Eintracht“ im Namen geführt und ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde? Ähnlich kurios wie zuvor beim 1. FC Köln aufgeführt: 1921 hatte die Fußballmannschaft sogar ein Turnier zur festlichen Begehung des 60jährigen Bestehens gespielt, weil man sich sogar nach dem Gründungsjahr der Frankfurter Turngemeinde von 1861 gerichtet hatte.
Aktuell rund um das Stadion als auch im Stadtgebiet zu sehen: Wildplakatierung zum Thema „Eintracht Frankfurt wird 125!“ Vermutlich eine Aktion von Personen, bei denen die Spielstätte immer noch „Waldstadion“ heißt und nicht die Namensgebung des aktuellen Sponsors gebraucht wird oder auch „schwarz, weiß, rot“ statt der korrekten Reihenfolge der Vereinsfarben „rot, schwarz, weiß“ gerufen wird.
18hundertirgendwas klingt natürlich sehr alt, und bei etwas, dass sehr alt ist, ist schnell die Rede von Tradition. Bei Fans steht Tradition hoch im Kurs, in der Regel, so zumindest mein Eindruck, allerdings seltener aufgrund des Vereins an sich – ausgenommen Geburtstage, besonders mit der 5 oder der 0 am Ende der Jahreszahl –, sondern mehr als Abgrenzung zu Entwicklungen im Fußball und besonders zu bestimmten Vereinskonstrukten. Zusammenschlüsse aus finanziellen und sportlichen Gründen von Vereinen sind in diesem Weltbild allerdings in Ordnung, auch wenn das bedeutet, dass, wie kürzlich bei der „Fusion“ von 1. FFC Frankfurt und Eintracht Frankfurt, außer der alten Spielstätte, ausgenommen vermeintliche Highlight-Spiele, die ins „Waldstadion“ verlegt werden, nicht viel übrig geblieben ist vom 1. FFC Frankfurt. Nicht in Ordnung ist in diesem Weltbild aber, wenn große Geldgeber*innen dahinter stecken. Eine andere Betrachtung ist auch möglich, wird in solchen Kreisen aber nie bemüht: Zum Beispiel könnte man das zuvor beschriebene Konstrukt „Eintracht“ mit Vereinen vergleichen, die sich seit ihrer Gründung nie mit anderen Fußball-, Turn-, Fecht- und Sportvereinen zusammengeschlossen haben, um finanziell und sportlich stärker zu werden.
Wenn Tradition also tatsächlich wichtig wäre, also nicht nur an den sich zugeschriebenem Geburtstag eines sogenannten Vorgängervereins, wäre ein Verein wie der Fußballsportverein Frankfurt 1899 e. V., seit seiner Gründung, tatsächlich 1899, tatsächlich als Fußballsportverein Frankfurt 1899 e. V., eigentlich die bessere Anlaufstelle in Frankfurt. Im Gegensatz zu den im gehobenen Bürgertum verankerten Vereinen Germania, Victoria und Frankfurter Kickers stammt er sogar aus dem kleinbürgerlichen Milieu, aber er spielt halt nicht in der 1. Bundesliga und als „Fan“ will man ja die große Bundesligabühne erleben, quasi wie die, die zum FC Bayern gehen, nur halt eine Nummer kleiner. Dort Erfolgsfans, hier Eventfans. Da sich seit Bundesliga-Gründung 1963 auch keine anderen Vereine aus Hessen – wenn man, im Gegensatz zu mir, zu den Leuten gehört, die Frankfurt im Kontext von Hessen betrachten wollen – in der höchsten Spielklasse etablieren konnten, legen alle Marketing-Melanies und Medien-Mannis sich Eintracht Frankfurt als hessischen Verein zurecht und tingeln als „Frankfurter Jungs“ regelmäßig ins Stadion zu Frankfurt am Main. Vermutlich geht es manchen dabei auch um den Fußball, der dort gespielt wird, aber Dauer-Sing-Sang, Pyrotechnik und ein von fragwürdigen Deutsch„rock“ geprägtes Wir-gegen-die-Gemeinschaftsgefühl scheinen nicht weniger wichtig zu sein.
Apropos nach Frankfurt tingeln. Wer Heimspiele der kürzlich ins Leben gerufenen U21 von Eintracht Frankfurt sehen will, muss nach Dreieich fahren, wo der eigentlich dort angestammte Verein zugunsten des Eintracht-Nachwuchses sich aus dem Ligabetrieb zurückgezogen hat. Sachen gibt’s … Wo ist denn hier eigentlich das Thema Tradition, wo sind hier denn Fans, Ultras, irgendwer, der*die Tennisbälle auf das Spielfeld in Dreieich werfen, wenn nicht mal Frankfurt als Spielstätte von Eintracht Frankfurt gehalten wird? Ja, gut, Scherz, außer für Profifußball, überwiegend dem des Männer-Teams, interessiert sich niemand ernsthaft für den gesamten Verein, das sieht man ja auch immer wenn die Eintracht-Kids in Seckbach („Riederwald“) spielen und sich das Publikum in der Regel überwiegend aus Eltern, Scouts, Freunde und den Nachwuchskickern anderer Altersklassen zusammensetzt.
Seltsames Ding also, diese Tradition, scheint sich jede*r so zurechtzulegen, wie es ihm*ihr gerade in den Kram passt. Und in der Tat: Tradition ist nicht etwas, dass einfach existiert oder ein Abbild von Vergangenem, das in die Gegenwart gerettet werden sollte. Tradition wird geschaffen, um mit gezielten Rückgriffen in die tatsächliche wie auch fiktionale Vergangenheit etwas in der Gegenwart zu bewirken, das den Interessen einer Person oder sonst wie zusammengesetzten Gruppierung dient und besonders gegenüber einem gegenwärtigen Wandlungsdruck legitimiert werden soll. Dinge, die nicht ganz die eigene Erzählung stützen, werden außen vor gelassen und die eigene Erzählung oft genug wiederholt, bis sie irgendwann übernommen wird. „Ein kulturelles Element als traditionell zu bezeichnen heißt, es zu konservieren. Veränderungen zu ignorieren heißt, mit dem Schutzschild der Tradition gegen Kritik sich zu immunisieren“, sagt SRF-Redakteurin Maya Brändli im Gespräch mit dem Ethnologen Till Förster von der Universität Basel, für den das Konservative nirgends so greifbar ist, wie im Begriff „Tradition“. Und schon Alf wusste: „Traditionen sind wie Teller – gemacht, um in Stücke zu fallen.“